Erzählungen

Die Zeit vergeht auch im Kühlschrank


Woran merken wir, dass Zeit vergangen ist? Mal, weil sich etwas verändert, mal, weil etwas zurückkehrt. Unsere Autor*person wird von einer Kindheitserinnerung eingeholt und merkt, dass die Zeit gar nicht immer und überall gleich schnell läuft.

Beitrag im Zollfreilager


«Der Normalbetrieb mit vollen Trams war eine Art Schock»


Dzeneta Dilji (28) gleitet durch Zürich und geniesst dabei das Alleinsein.

Beitrag in Das Magazin


Ein Andenken entlang der Turmfassade


Mit ihrer Installation ‹Forget Me Not› besinnt sich die Künstlerin und Designerin Stéphanie Baechler auf die einst florierende Ostschweizer Textilindustrie.

Beitrag im Hochparterre  


(12.7.24)



die Landschaft ist alles gleichzeitig:  Boden, in dem alles wächst und auf dem alles geht und fliesst; Horizont, Unterschlupf, Kulisse, und die harte Oberfläche, auf die ich mein Heft lege und schreibe

Zögern am goldenen Strand


Publiziert in “INTRO” Issue 2 “Narrate”, 2023 super friendly society


Am Nachmittag vor meiner Abreise stand ich in der Bucht «Les Sables d’Or», zwölf Minuten von Biarritz entfernt. Das Ufer ist ein bisschen geschützt durch eine Steinmole, und im näheren Break tummelte sich der lokale Surfclub; alles Zehn- bis Vierzehnjährige in pinken Lycras. Um sie scharte sich ein ungewöhnlich mächtiger Pulk aus Körpern und Brettern, und sie badeten sich aufgeregt in der späten Augustsonne. Dass sich an diesem einen Tag so viele Menschen in diesem Becken wiederfanden, hatte zwei konkrete Gründe: Erstens war es Swell-technisch der letzte gute Tag der Woche, zweitens hatte eine akute Abfallverschmutzung die Behörden veranlasst, alle Strände südlich entlang der Küste zu sperren.
Mir wurde mulmig. Das Wasser war bei weitem nicht so klar wie am Vortag. Es stellte sich unruhig auf, brach mal früher, mal später und abwechslungsweise auf etwa drei Höhen in der Bucht. In ihnen wogte das Lineup wie ein blinkendes Netz verzettelt auf und ab und sah nervös und wuselig aus, aber vor allem eines: Unheimlich männlich.

Eilig stemmten sich mehr und mehr Gründe, nicht ins Wasser zu gehen, gegen meine Lust aufs Surfen: Was, wenn ich jemandem aus Versehen den Vortritt nehme? Was, wenn ich gar keine Welle kriege? Die Wellen sehen schon sehr gross aus; ich konnte überhaupt erst zwei Mal auf diesem Brett aufstehen, was, wenn mir jemand «reindroppt», was, wenn ich verspült werde, Ich Poser, ich kann eh viel zu wenig, all die Leute nerven sich sicher schon, wenn sie mich rauspaddeln sehen; ich kann ja auch noch abwarten, ja, besser warte ich noch ab, Ich bin erstarrt. Noch vor zehn Minuten hatte ich mich so gefreut.

Nun, mit den Füssen im goldenen Sand, rümpfte ich meine Nase und drehte ich mich etwas zerknirscht zu meiner Freundin um. Ziemlich viele Leute hier, fand ich – sie nickte –, und unruhige Wellen, – sie nickte. Siehst du noch eine FLINTA-Person, fragte ich, in der Hoffnung, jemanden übersehen zu haben. Sie schüttelte den Kopf.
Meine Nase rümpfte ich unterdessen vor allem, weil ich gerade feststellte, dass ja eine FLINTA-Person im Wasser wäre, wäre ich nicht so lange am Zögern und schon los. So war ich also da und stand mir im Weg. Und in meinem Nacken, in meiner Brust, in meinem Beinen schäumte ein Gefühl, das vorhin noch nicht da war: Die Unsicherheit. Eingeschüchtert verschränkte ich meine Arme und verfluchte mich, verfluchte dieses Hobby, das mich so befangen machte, verfluchte die Bedingungen, die mich fernhielten.

So oft hatte ich mich schon einschüchtern lassen: Im Lineup zwischen stillen und grimmigen Surfern, die weder nicken noch grüssen; am Rand eines Skateareals; ganz oben an einem Snowpark. So oft hatte ich kehrt gemacht, bevor ich etwas hätte probieren können, oder abgebrochen, weil ich niemandem im Weg sein wollte. Und ich schätze, dass es den meisten so geht: Dieses Gefühl befällt all jene, die sich an einem Spot nicht repräsentiert sehen. Jene, die niemanden sehen, die*er aussieht wie sie, so grüsst wie sie, aufmerksam schaut wie sie, sich bewegt wie sie. Jene, die niemanden sehen, die*er Platz macht für sie.
Mut kommt wohl selten ganz von allein, er wächst für die meisten von uns aus einem Ort des Vertrauens. Wir wagen uns, wenn wir uns wohl fühlen. Dazu braucht es, dass wir uns in unserem Umfeld wiedererkennen. Wird das an einem Spot nicht durch die wohlwollende Geste einer fremden Person ermöglicht, hilft es, Vertraute mitzubringen: Freund*innen, deine Crew, ein*e Gefährt*in.

Eine Bucht, eine Piste, ein Skatespot verwandelt sich, wenn ich gemeinsam mit einer Vertrauensperson darauf blicke. Gemeinsam versetzen wir uns in einen Ort und erkennen uns dann darin wieder. Kommt die Unsicherheit trotzdem, erinnern wir einander, dass es den meisten so geht. Und dass wir nicht da sind, um uns zu messen. Wenn es nichts zu gewinnen gibt, gibt es auch nichts zu verlieren. Wir sind hier; draussen, der Jahreszeit ausgesetzt, um unsere Körper in Bewegung zu spüren. Vor meinem inneren Auge setze ich zum Turn an, gleitend, das Wetter an meiner Haut.

Am «Sables d’Or» guckte meine Freundin über ihre Schulter auf meinen hibbeligen Körper, dessen Füsse mittlerweile fest im Sand versenkt waren. Gehst du trotzdem?, fragte sie. Ich nickte.

(10.3.22)



es knirscht zwischen
meiner linken und rechten Herzwand
wie Gletschereis
bevor der erste Brocken bricht

Aus den Notizen


unfertig, 2023


Es wurde geboren von seiner Mutter, an einem Montag fünfeinhalb Monate nachdem die Welt hätte untergehen sollen. Die Welt hatte wieder Atem geholt, als doch nur einige Computer mit Zeit-Zählsystemen über 1999 ausgestattet werden mussten und eine plötzlich nicht mehr so laute Minderheit zögerlich aus ihren Luftschutzkellern kroch. Über sein Geburtsjahr würde später in den Annalen der MeteoSchweiz geschrieben: «Das Jahr 2000 war viel zu warm, insgesamt sei der Mai rund 3 Grad Celsius zu warm gewesen, die Obstbäume und Margeriten blühten je mit einem Vorsprung von zwei bis drei Wochen.»

Seine Mutter presste es kurz vor elf Uhr nachts in die Welt, in einen Saal des Zürcher Unispitals, und die viel zu laue Frühlingsluft war getränkt vor Erschöpfung. Es wurde mit einer Glocke aus ihr gezerrt – wie ein grosser Saugnapf, wurde ihm später erzählt, der, wie in der Erzählung immer angehängt wurde, nicht richtig hielt wegen seiner vielen Haare. Die Glocke verformte seinen Kopf wie ein Ei und seine Eltern kriegten Panik, als sie auf es schauten, und die zuständige Person im Raum musste ihnen versichern, dass sein Schädel noch weich sei, und dass er sich innert Kürze wieder zurückforme.
Es wurde geboren von seiner Mutter hinein in die Wiege zweier (sich) liebender Eltern, in die Hände seines Vaters, der gleich seinen Job kündigen würde und an die Brust seiner Mutter, für die es das erste Baby überhaupt war, das sie hielt.

Die Welt machte Versprechen und war etwas zu gross und der fehlende Schlaf klebte seinen Eltern an den Gliedern wie Öl. Es hatte Koliken und schreite viel. Seine Mutter war damals fünf Jahre älter als es es jetzt ist. Seine Grosseltern begannen es, ihr erstes Grosskind, freitags mit auf die Arbeit zu nehmen. Es machte Mittagsschlaf auf dem Bettsofa in der Kanzlei seiner Grossmutter und auf dem Bauch seines Grossvaters. Bei seinen Grosseltern spielte es Memory (bis sein erster Bruder besser wurde als es), sang Lieder und konnte es sich länger vom Haarebürsten drücken. Es wurde mitgenommen in den Zoo und später auf das Segelboot.

Das Kind wurde geboren von seiner Mutter; ein kleines, schweres Kind, behütet von genug Seiten. Die Luft zwischen seinen Eltern war schwer vor Erwartung und Vorhaben und Zukunft. Man blickte ihm mit weiten Augen ins Gesicht. In seinen Zuhausen wurde Berndeutsch und Zürideutsch und Finnisch mit ihm gesprochen und wenn etwas nicht für das Kind bestimmt war, wurde es auf Englisch gesagt, also verstand es bald auch das.

Sonntag. Das Kind sitzt zum Abendessen seinem Vater gegenüber. Reife kommt von Erschöpfung, schliesst es aus dem vorangehenden Gespräch. Es beuge sich über den Esstisch, der so alt ist wie sein kleinerer Bruder. Die Kinder wurden gross in den Armen dreier Generationen Eltern; alle entschlossen, sich selbst und ihren Kindern besser zu sein. Reife ist Kapitulation, legt es nach und schaut dabei auf seinen Vater.

Ich wurde geboren von meiner Mutter im halb angebrochenen Mai des Jahres 2000

Gedicht aus Verzweiflung, 2020



das Ende sei das Ziel oder umgekehrt

lauf, um ihm zu entkommen, denn

das Leben liegt im Umweg

Auf der längeren Strecke

wo das Kies etwas mehr knirscht, geh

geh schlendernd oder eilend

mit Blumen zu den Füssen und

Sternen über der Stirn

Love Songs for Right Now


Experimente in Dramaturgie, 2024–


Ablösung, 2021



Ich gebäre mich gerade selber wieder in einem dunklen, stillen Raum mitten im Wanst dieser unausstehlichen Stadt;

hier gärt ein neues Ich heran das ich erahne aber noch nicht sehe, ich spüre langsam seine Umrisse während es sich seinen Weg durch Erinnerungen an das Alte erstreitet