Die Zeit vergeht auch im Kühlschrank


Essay aus dem Studium Kulturpublizistik,  Version April 2024


Protagonist*innen

Erzähler*in
Die Zeder
wachsendes Kind
Die Zeit


Nebenfiguren

Die gefährdeten Orang-Utans
Die Erwachsenen
Die Zähler einer Uhr
Regenwald
Kellerassel
Blauwal





Noch so manches Kind, das in einem Haushalt in einer Schweizer Stadt oder der Agglomeration oder einem Dorf an der Grenze zur Agglomeration der Stadt aufgewachsen ist, hatte, als es klein war, im Kühlschrank des besagten Haushaltes eines: Margarine.

So auch beim Kind in unserer Erzählung. Sonntags würde die Familie den Frühstückstisch decken und Brot und Zopf und Halbfettmilch um Orangensaft und Joghurt anordnen, drei verschiedene Konfitürengläser aus der Küche an den Tisch tragen und das Geschirr etwas verschieben, damit diese auch noch Platz fänden. Sie würden Speck und Eier braten – die Eier im Fett des Specks – und jemand würde mit der brutzelnden Bratpfanne alle an den Tisch rufen. Meistens ass die Familie des Kindes drinnen. Ab Mai bis in den August auch draussen, wenn das Wetter schön war und wer die Musse hatte, den Gartentisch abzuwischen. Dann musste jemand dafür sorgen, dass die Milchprodukte einen Schattenplatz fänden, also würde jemand die Sonnenstore einen Viertel ausrollen, um dann in ihren Schutz die Milch, das Joghurt und die Butter zu stellen. Da stellte die Familie die Margarine dann auch hin. Die LÄTTA. Die Lätta – im Gegensatz zur Butter nicht in Papier gewickelt oder auf einer Platte serviert, sondern in dünnwandiger weisser Plastikschale – wurde von Kindern entweder bevorzugt, weil sie sich besser als Butter auf einem Brot verteilen liess, oder sie wurde von ihnen verabscheut, weil sie nicht nach Butter schmeckte. Beim Kind zuhause gab es sie, und sie wurde auch reichlich konsumiert. Für die Wahl des Streichfetts fiel bei diesem Kind aber stärker ins Gewicht, dass es die grossen farbigen Buchstaben «LÄTTA» früher lesen konnte als das kleine «Die Butter».

Im selben Lebensabschnitt las es auch die Magazine des WWF. Erst «Lilu Panda», dann «Panda Club», dann das WWF-Magazin. Das Kind hatte ein Abonnement, denn es waren die frühen Zweitausender, ein echtes Blatt aus Papier also, alle drei Monate lag es im Familienbriefkasten. Zu dieser Zeit sorgte sich der WWF sehr um den Orang-Utan und schenkte ihm deshalb Schlagzeilen und Steckbriefe. «Der Waldmensch», so nannte die Organisation das Tier, stehe am Rande des Aussterbens. Und Schuld am besorgniserregenden Stand des Orang-Utans war das Palmöl, oder dass für dessen Anpflanzung der Regenwald abgeholzt wurde. Im Kinderzimmer also lernte das Kind vom Orang-Utan und vom Palmöl. Und es kombinierte: Den Orang-Utans geht es elend, weil die Lätta den Regenwald tötet. Denn die Lätta besteht aus Palmöl.
Dass die Familie also in jeder Portion Margarine eigentlich auch den Orang-Utan mit aufs Brot strich, begriffen die Eltern des Kindes offenbar auch, denn die Margarine fiel aus dem Sonntagsbrunch-Repertoire und blieb ihm von da an auch fern. Damals ist das dem Kind nicht wirklich aufgefallen (es war ja auch ein Kind, und Kinder merken nicht alles), und andere Dinge waren prägender in seinem Aufwachsen, denn vermisst hat es die Margarine nicht.


Als das Kind, nun schon eine Weile von zuhause ausgezogen, kürzlich bei den Eltern zu Besuch war und gewohnt die Tiefen des Familienkühlschranks durchforstete, fiel sein Blick auf etwas Ungewohntes. 

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