Zögern am goldenen Strand


Publiziert in “INTRO” Issue 2 “Narrate”, 2023 super friendly society


Am Nachmittag vor meiner Abreise stand ich in der Bucht «Les Sables d’Or», zwölf Minuten von Biarritz entfernt. Das Ufer ist ein bisschen geschützt durch eine Steinmole, und im näheren Break tummelte sich der lokale Surfclub; alles Zehn- bis Vierzehnjährige in pinken Lycras. Um sie scharte sich ein ungewöhnlich mächtiger Pulk aus Körpern und Brettern, und sie badeten sich aufgeregt in der späten Augustsonne. Dass sich an diesem einen Tag so viele Menschen in diesem Becken wiederfanden, hatte zwei konkrete Gründe: Erstens war es Swell-technisch der letzte gute Tag der Woche, zweitens hatte eine akute Abfallverschmutzung die Behörden veranlasst, alle Strände südlich entlang der Küste zu sperren.
Mir wurde mulmig. Das Wasser war bei weitem nicht so klar wie am Vortag. Es stellte sich unruhig auf, brach mal früher, mal später und abwechslungsweise auf etwa drei Höhen in der Bucht. In ihnen wogte das Lineup wie ein blinkendes Netz verzettelt auf und ab und sah nervös und wuselig aus, aber vor allem eines: Unheimlich männlich.

Eilig stemmten sich mehr und mehr Gründe, nicht ins Wasser zu gehen, gegen meine Lust aufs Surfen: Was, wenn ich jemandem aus Versehen den Vortritt nehme? Was, wenn ich gar keine Welle kriege? Die Wellen sehen schon sehr gross aus; ich konnte überhaupt erst zwei Mal auf diesem Brett aufstehen, was, wenn mir jemand «reindroppt», was, wenn ich verspült werde, Ich Poser, ich kann eh viel zu wenig, all die Leute nerven sich sicher schon, wenn sie mich rauspaddeln sehen; ich kann ja auch noch abwarten, ja, besser warte ich noch ab, Ich bin erstarrt. Noch vor zehn Minuten hatte ich mich so gefreut.

Nun, mit den Füssen im goldenen Sand, rümpfte ich meine Nase und drehte ich mich etwas zerknirscht zu meiner Freundin um. Ziemlich viele Leute hier, fand ich – sie nickte –, und unruhige Wellen, – sie nickte. Siehst du noch eine FLINTA-Person, fragte ich, in der Hoffnung, jemanden übersehen zu haben. Sie schüttelte den Kopf.
Meine Nase rümpfte ich unterdessen vor allem, weil ich gerade feststellte, dass ja eine FLINTA-Person im Wasser wäre, wäre ich nicht so lange am Zögern und schon los. So war ich also da und stand mir im Weg. Und in meinem Nacken, in meiner Brust, in meinem Beinen schäumte ein Gefühl, das vorhin noch nicht da war: Die Unsicherheit. Eingeschüchtert verschränkte ich meine Arme und verfluchte mich, verfluchte dieses Hobby, das mich so befangen machte, verfluchte die Bedingungen, die mich fernhielten.

So oft hatte ich mich schon einschüchtern lassen: Im Lineup zwischen stillen und grimmigen Surfern, die weder nicken noch grüssen; am Rand eines Skateareals; ganz oben an einem Snowpark. So oft hatte ich kehrt gemacht, bevor ich etwas hätte probieren können, oder abgebrochen, weil ich niemandem im Weg sein wollte. Und ich schätze, dass es den meisten so geht: Dieses Gefühl befällt all jene, die sich an einem Spot nicht repräsentiert sehen. Jene, die niemanden sehen, die*er aussieht wie sie, so grüsst wie sie, aufmerksam schaut wie sie, sich bewegt wie sie. Jene, die niemanden sehen, die*er Platz macht für sie.
Mut kommt wohl selten ganz von allein, er wächst für die meisten von uns aus einem Ort des Vertrauens. Wir wagen uns, wenn wir uns wohl fühlen. Dazu braucht es, dass wir uns in unserem Umfeld wiedererkennen. Wird das an einem Spot nicht durch die wohlwollende Geste einer fremden Person ermöglicht, hilft es, Vertraute mitzubringen: Freund*innen, deine Crew, ein*e Gefährt*in.

Eine Bucht, eine Piste, ein Skatespot verwandelt sich, wenn ich gemeinsam mit einer Vertrauensperson darauf blicke. Gemeinsam versetzen wir uns in einen Ort und erkennen uns dann darin wieder. Kommt die Unsicherheit trotzdem, erinnern wir einander, dass es den meisten so geht. Und dass wir nicht da sind, um uns zu messen. Wenn es nichts zu gewinnen gibt, gibt es auch nichts zu verlieren. Wir sind hier; draussen, der Jahreszeit ausgesetzt, um unsere Körper in Bewegung zu spüren. Vor meinem inneren Auge setze ich zum Turn an, gleitend, das Wetter an meiner Haut.

Am «Sables d’Or» guckte meine Freundin über ihre Schulter auf meinen hibbeligen Körper, dessen Füsse mittlerweile fest im Sand versenkt waren. Gehst du trotzdem?, fragte sie. Ich nickte.